Einiges mehr als drei Stunden sind wir nun schon unterwegs, von Helsinki
Richtung finnische Seenplatte im Osten Finnlands: Auf welligen Landstraßen, abwechselnd
gesäumt von weiten Feldern oder dichten Wäldern. Gerade haben wir im Autoradio von
einem Elch gehört, der den Straßenverkehr blockiert – da ruft meine finnische Freundin
Emma von der Rückbank aus: Abbiegen! Jetzt!!
Und wir biegen ab, hinein in den Wald, auf schmalen Straßen geht es langsam dahin. Warte, warte mal, sagt Emma. Ich glaube wir hätten da vorhin doch links abbiegen müssen. Oder, warte mal… Emma runzelt die Stirn. Doch, fahr zurück und dann links. Ich werfe einen fragenden Blick in den Rückspiegel. Bist du sicher? Emma lacht und zuckt mit den Schultern. Ich schiebe zurück zur letzten Wegkreuzung und biege nach links ab. Wir sind zum Ferienhaus von Emmas Eltern an einem der unzähligen Seen der finnischen Seenplatte unterwegs. Den Weg zu dem kleinen Haus am See zu finden, das gleicht oft einer kleinen Odyssee durch den dichten Wald, erzählt Emma. Aber dann liegt es vor uns, das Mökki, wie die hübschen kleinen Sommer-Häuschen auf finnisch heißen. Hellblau gestrichen, umgeben von Birken, die sich im Wind leicht wiegen, mit einer hübschen Veranda., wo ich mich sofort mit einem dicken Wälzer sitzen sehe. Von dem Häuschen geht ein schmaler Pfad hinunter zum See, der da weit und dunkel liegt. See, soweit mein Auge reicht. Welcome to the end of the world, lacht Emma. Wenn das Ende der Welt so aussieht, dann gefällt es mir, denke ich mir. Welcome, lacht dann auch Emmas Vater, finally you found us? Und zwinkert seiner Tochter zu.
Was für eine schöne Geste von Emmas Eltern uns in ihr Ferienhaus einzuladen, denke ich mir. Finnische Gastfreundschaft, wir werden sie noch öfter erleben auf unserer zweiwöchigen Reise durch Finnland. Das Haus mag ich auf Anhieb: Es hat ein Ess- und Wohnzimmer mit Küche und drei kleine Schlafzimmer. Einfach, aber sehr gemütlich, alles mit Holz verkleidet. Toilette? Ein Plumpsklo in einer kleinen, blau gestrichenen Hütte am Hof draußen. Dusche? Nein. Es gibt ja den See. Dafür aber gibt es eine Sauna im Haus. Natürlich. Denn die hat nahezu jedes Haus, ja sogar nahezu jede Wohnung in Finnland. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, dass es in Finnland soviele Saunen gibt, dass sogar alle 5,5 Millionen Finnen gleichzeitig darin Platz finden könnten. Und das ist gar nicht so abwegig, gibt es in Finnland doch geschätzt rund drei Millionen Saunen. Kein Wasser im Haus bedeutet auch: Trinkwasser holen wir mit einem Kübel aus dem See und kochen es ab, bevor wir es trinken.
Von Beeren & Bären...
Den ersten Abend verbringen wir auf dem großen Platz vor dem Haus: Mit einem Lagerfeuer, Würsteln am Holzstecken und viel finnischem Bier. Und einem unendlichen Sternenhimmel über uns. Und Erzählungen von Emmas Vater – auch über Bären in finnischen Wäldern. Was mich in den folgenden Nächten vorsichtshalber ohne Taschenlampenlicht zum Plumpsklo am anderen Ende des Hofs irren lässt. Was ich nicht sehe, sieht mich auch nicht? Oder wie war das noch mal…? Jedenfalls, der Bär lässt sich nicht sehen in den nächsten Tagen, auch nicht beim Sammeln von Heidel- und Preiselbeeren im Wald. Das Gold der finnischen Wälder sind übrigens die Moltebeeren, mit einem süßen, feinen Geschmack und reich an Vitamin C. Besonders gut passen sie zu Käse, noch besser schmecken sie aber in Likör-Form, finde ich.
Beim Schlafen gehen wartet dann die nächste finnische Erfahrung auf mich: Abgesperrt wird die Haustür nicht. Warum auch, sagt Emma. Ist ja keiner da. Außer Bären, murmle ich in mich hinein und verbiete mir die Überlegung, ob Bären Türschnallen öffnen können. Und beruhige mich viel mehr damit, dass uns hier sowieso keiner finden wird, da brauche ich nur an unsere eigene Irrfahrt durch den Wald zurückdenken. Aber können wir dann bitte wenigstens das scharfe Messer, das zum Ausnehmen von Fischen bereit liegt auf einem Stockerl zwischen den Schlafzimmertüren, verräumen? Emma kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Klar…
Am nächsten Tag übernehmen Emma, mein Mann und ich die Herrschaft über das Haus. Emmas Eltern verabschieden sich Richtung Helsinki und davor hat Emmas Vater noch einen Tipp für meinen Mann: Wenn du magst, nimm das Ruderboot, fahr raus und nimm die Angel mit. Es lohnt sich… Warum es sich lohnen würde ein Saunafan zu sein – der ich leider so gar nicht bin –, stelle ich dann gleich wenig später fest. Wer sich vorher in der Sauna so richtig erhitzt, dem fällt der Sprung in den kalten See zur täglichen Reinigung dann nämlich wesentlich leichter. Und ich sehe Emma und meinem Mann nach ein paar Sauna-Durchgängen dabei zu, wie sie lachend in den 15 Grad kalten See laufen, relativ frei von Überwindung, wie es scheint. Ich muss mich erst mal selbst überzeugen, dabei ist eigentlich kein See vor mir sicher, und das auch bei niedrigen Temperaturen. Aber 15 Grad…? Dann bin ich drinnen, in diesem dunklen, ruhigen See, dessen Ende ich schwimmend erst mal nicht erahnen kann. Ich ziehe Runde um Runde, schließlich kann ich fast gar nicht mehr verstehen, warum ich so lange gebraucht habe, mich mit ihm anzufreunden. Es wird nun mein tägliches Ritual werden, frühmorgens, durch das milchige Licht und die raschelnden Birkenbäume hinunter zum See, mal einen Fuß hinein strecken und dann innerlich mit mir verhandelnd, Zentimeter für Zentimeter meinen Körper ins Wasser bringen. Und schließlich große, immer größere, genussvolle Runden ziehen. Bis die anderen am Ufer brüllen: Breaaaaakfast!
Die Tage vergehen ohne große Aufregung: Aufstehen, dusch-baden, frühstücken, den Birken zuhören, ein gutes Buch lesen, wieder den Birken beim Rascheln zuhören. Meinen Mann bei seinen vergeblichen und ziemlich erfolglosen Angelversuchen beobachten, bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht nur die Fische überleben, sondern auch die Angel selbst. Mit Fisch wird es wohl nichts heute Abend. Mit dem Ruderboot hinausfahren auf den See: Endlos kann man hier rudern und nur ahnen, wo im Dickicht des Waldes wohl der nächste Nachbar wohnt. Wir rudern an einer kleinen Insel im See entlang, gefühlt ewig sind wir schon unterwegs. Sollen wir nicht langsam umkehren, frage ich Emma. Nein, wir umrunden die Insel, sagt sie und tatsächlich, jetzt rudern wir auf der anderen Seite entlang. Hier muss es wo einen Durchstich geben, meint Emma und hält danach Ausschau, ich bin hier schon mit meinem Vater gewesen. Und bevor ich noch überlegen kann, ob so ein Durchstich auch komplett zuwachsen kann, hat Emma ihn erspäht: Da! Wusste ich es doch! Maximal doppelt so breit wie unser Boot ist der Durchstich an den meisten Stellen und wir balancieren uns mit den Rudern durch den schmalen Kanal hindurch… Und dann kann ich "unser" Haus auch schon schemenhaft in der Ferne erkennen.
Die finnische Seenplatte, mit über 100.000 km2 Fläche die größte Seenplatte Europas, liegt im Südosten Finnlands. Ich versuche mir dieses Gebiet aus der Vogelperspektive vorzustellen: So viel Wald, Moor, ein See am anderen. Über 42.000 Seen soll es hier geben, eigentlich eine unfassbare Zahl. Und sie sind in soviele Buchten, Becken, Seearme zerspragelt, wie ein schier unendliches Labyrinth aus Wasser und Wald stelle ich mir das vor. Der größte See Finnlands (und der viertgrößte Süßwassersee Europas) und auch jener, der am weitesten verzweigt ist, ist der Saimaa. Dieser ist eigentlich kein See im klassischen Sinn, sondern ein Verbund aus vielen Gewässern und Inseln. In Zahlen ausgedrückt sind das beeindruckende 4.370 km2 Fläche und 14.500 km Küstenlinie.
Beeindruckt wäre ich ganz sicher auch von den wunderschönen Sonnenuntergängen, die es an diesen Seen gibt. Aber so wie sich die berüchtigten und gefürchteten Gelsen, die hier eigentlich im August ihr Unwesen in Scharen treiben sollen, vornehm zurückhalten, hält sich auch das Wetter mit allzuviel Sonne zurück. Eher grau präsentiert sich der Himmel und damit fällt leider auch unsere Chance auf unvergessliche Sonnenuntergänge ins Wasser. (Sonnenuntergang-Fotos: Pixabay)
Wir liegen nicht nur auf der faulen Haut in diesen Augusttagen am See: Denn nicht weit von unserem Mökki gibt es eine Sehenswürdigkeit, die wir keinesfalls verpassen sollten, sagt Emma – die Kirche von Kerimäki, die weltgrößte Holzkirche. Bis zu 5.000 Menschen können sich gleichzeitig in der Kirche aufhalten, die 1847 nach dreijähriger Bauzeit fertiggestellt worden war und in freundlichem Gelb gestrichen ist. Ich mag neoklassizistische Architektur und damit auch diese Kirche, die mir zudem in ihrer Größe imponiert: 45 Meter lang, 42 Meter breit und 27 Meter hoch ist sie und bietet 3.400 Sitzplätze. Ob diese jemals bis auf den letzten Platz besetzt sind, überlege ich und lese dann, dass die Kirche im Sommer auch für Veranstaltungen im Rahmen der bekannten Opernfestspiele im nahen Savonlinna genutzt wird. Full house herrscht hier dann vermutlich.
Es ist eine sehr ungewöhnliche Kirchenarchitektur, die wir hier zu sehen bekommen, mit all dem Gebälk und den hölzernen Verstrebungen – zumindest für uns, die wir von unseren Reisen im südeuropäischen Raum viel Prunk und Glanz der katholischen Kirchen gewohnt sind. Spannend finde ich die alten Öfen, von denen in jedem Eck der Kirche einer steht. Ob sie in finnischen kalten Wintern wohl genug Wärme während einer langen Messe hergeben? Wohl nicht, denn Gottesdienste finden hier nur im Sommer statt. Und unweit der großen Kirche wurde 1953 eine kleinere, beheizbare Kirche erbaut. Und dann finden wir doch noch etwas, was hier aus Stein erbaut wurde: Nämlich der freistehende, hölzerne Glockenturm. Sein Untergeschoss wurde dann doch aus massiven Steinen errichtet. Schließlich schlendern wir noch ein wenig durch das Ortszentrum von Kerimäki, das idyllisch am Westufer des Puruvesi-Sees liegt. Auch hier gibt also das Wasser den Ton an. Und so überraschen auch nicht die weiteren Sehenswürdigkeit Kerimäkis: ein Süßwasserfischereimuseum, ein Freilichtmuseum und ein Fischergut.
Nur rund 20 Kilometer entfernt liegt Savonlinna, das für Opernfans im Sommer wohl ein Must ist: Denn in der Burg Olavinlinna findet mit dem Savonlinna Opera Festival vier Wochen lang im Juli das berühmteste internationale Kulturereignis Finnlands statt. Aber nicht nur das macht die Stadt, die auf mehreren Inseln am Saimaa-See liegt, zu einem attraktiven Ziel: Denn auch ohne Opernfestival lohnt ein Besuch der beeindruckenden Burg, die trutzig dank ihrer drei Rundtürme auf einer kleinen Insel vor dem Stadtzentrum steht und als besterhaltene mittelalterliche Festung Nordeuropas gilt. 1475 wurde mit dem Bau der Burg begonnen, damals noch an der Grenze zwischen Schweden und Russland positioniert, als Grenzbollwerk der Schweden. Einige Jahrhunderte war die Festung einer wechselhaften Geschichte ausgesetzt, mal im Besitz der Schweden, dann des zaristischen Russlands, bis es ruhig darum wurde, als ganz Finnland russisches Großfürstentum wurde (Finnland war von 1808 bis 1917 ein autonomes Großfürstentum und Teil des russischen Reiches). Die Republik Finnland machte sich dann daran das über die Jahrhunderte stark beschädigte Bauwerk zu restaurieren.
Erkunden kann man die Festung auf eigene Faust oder im Rahmen einer Burgführung, in gleich zwei Museen erfährt man viel über die Geschichte der Region, die Geschichte und Architektur der Burg sowie Ikonen und Kultgegenstände der Ostkirche. Und jedenfalls lohnt es sich die vielen Stufen im Inneren der Türme zu bezwingen, denn oben angekommen, wird man mit einem großartigen Blick auf die Seelandschaft belohnt. Aber auch ein Spaziergang durch den historischen Stadtkern mit ein paar pittoresken Gässchen und hübschen, bunten Holzhäusern lohnt sich. Ein wenig erinnert es mich an das kleine Städtchen Porvoo im Süden Finnlands, das für sich reklamiert, die „schönste Altstadt Finnlands“ zu haben.
Am letzten Morgen in Emmas kleinem Haus am See stehe ich besonders früh auf und ziehe meine Runden im See. Wie werde ich das vermissen, ja, trotz der 15 Grad. Ich lasse mich am Rücken treiben, höre nur das Glucksen des Wassers unter mir. Und ganz hinten, am Ende des Sees, da sehe ich doch jetzt tatsächlich plötzlich ein Stückchen blauen Himmel. Aber den habe ich irgendwie gar nicht gebraucht für mein finnisches Sommer-Seen-Glück...
Auch noch gut zu wissen: Savonlinna liegt rund 330 Kilometer nordöstlich von Helsinki inmitten der ostfinnischen Landschaft Südsavo. Wer nicht mit dem Auto unterwegs ist, erreicht die Stadt in rund fünf Stunden mit dem Zug – und kann sich dann auch hier ein Auto mieten, um die Seenplatte möglichst flexibel erkunden zu können. Beste Bedingungen für Wanderer, Radfahrer und Kanufahrer bieten übrigens die zwei Nationalparks Kolovesi und Linnansaari. Wer sich ganz klassisch ein „Mökki“ (Sommerhaus) mieten möchte, hat die Qual der Wahl: Denn das Angebot an Miet-Häusern ist groß und Finnland-Fans können so Besitzer auf Zeit von Steg, Sauna und manchmal sogar Boot werden.