• Herbstreise ins Piemont
    96h im nördlichen Piemont (I)

Oktober 2016

Kein Fan von Trüffeln? Kein Problem, es gibt genügend andere gute Gründe,
sich im Herbst auf den Weg ins nördliche Piemont zu machen.
Genau genommen 7 Gründe. Mindestens…

Vor einer Stunde ist der Flieger am Flughafen Malpensa in Mailand gelandet, nun sitzen wir im Auto und nähern uns dem Lago di Orta. Und die Vorfreude breitet sich immer mehr in uns aus, sie kribbelt förmlich in uns… in einer Stunde, noch bevor wir in unser Stamm-B&B direkt am See einchecken, werden wir im hübschen kleinen Orta San Giulio im Ristorante Venus am Seeufer sitzen und einen Cappuccino und einen Toast bestellen. Diese Art von Toast, die es nur in Italien gibt, mit Prosciutto Cotto und Käse, der nach… ja, wonach eigentlich, na ja, eben nach Italien schmeckt. Vorne am Ufer werden die Bootskapitäne anlegen und Ausschau halten nach neuen Passagieren, die auf die Klosterinsel übersetzen wollen, aber der Andrang wird überschaubar sein, denn es ist ein Wochentag im Oktober, und dann werden sie sich zusammenrotten und sich wild gestikulierend unterhalten. Und die Sonne wird uns ins Gesicht scheinen, die Kinder werden hinter uns Fußball spielen, sie werden den Ball unabsichtlich in den Gastgarten des gegenüber liegenden Cafès knallen und die dort sitzenden Signori werden den Ball schnappen, ihnen drohend winken, ein warnendes „Ragaaaazzziiii“ brüllen und den Ball Richtung See werfen. Alles wie immer, werden wir uns denken und uns angrinsen und unser Gesicht wieder in die Herbstsonne halten, hey, es ist Mittwoch und wir sitzen nicht im Büro und vor uns liegen vier großartige Tage… ach ja, Grund Nr. 1 übrigens, der beste vielleicht, diese Vorfreude – auf diesen kleinen Ort, den wir nun schon zum dritten Mal besuchen. Nachdem wir im Frühsommer und Hochsommer schon mal hier waren, ist es höchste Zeit für einen Herbst-Check...

Tag 2. Da wir Orta San Giulio und die nähere Umgebung von unseren vorhergehenden Besuchen schon recht gut kennen, geht es gleich mal in südwestlicher Richtung nach Biella. Nach einer knapp eineinhalbstündigen Autofahrt landen wir in dem kleinen Städtchen am Fuße der Voralpen. Mit dem Funicolare (einer Schrägseilbahn aus dem Jahr 1885) geht es hinauf in die Oberstadt von Biella: Oben, in Piazzo, warten enge mittelalterliche Gässchen, edle Stadtpalazzi und beschauliche Plätze und vor allem ein großartiges Bergpanorama auf die Besucher. Besonders beeindruckend: Der Palazzo der einflussreichen Familie Lamarmora aus dem späten 18. Jahrhundert und der Palazzo Ferrero, der einst mit dem Palazzo Larmarmora verbunden war. Wir schlendern durch die Laubengänge und verlassen die Oberstadt durch das östliche Stadttor, um zu Fuß zur Piazza Martiri della Libertà in der Neustadt hinunter zu steigen.

Unten in der Neustadt spielt sich das geschäftige, städtische Leben ab: In der Fußgängerzone gibt es zahlreiche Bekleidungsgeschäfte, denn Biella ist italienweit bekannt für hochwertige Textilien und Wolle bekannt. Auch heute noch liegen die Fabriken einiger Hersteller am Fluss Cervo, darunter die von Cerruti. Mehr als 40 Outlet-Stores gibt es in und rund um Biella, Modefans werden hier also garantiert fündig, ob bei Cerruti (Via Cernaia 40) oder im Outlet-Store „The Place“ (5 km südlich von Biella, an der SS230 Richtung Vercelli), wo unter anderem Zegna, Gucci  und La Perla zu finden sind. Sportbegeisterte kommen vielleicht nicht am Fila Factory Outlet 4 km südlich von Biella vorbei, ohne einen Stopover einzulegen. Übrigens, wenn man in einem der Lokale in Biella eine Pause einlegt, dann sollte man nicht verabsäumen ein Birra Menabrea zu probieren, denn dieses hat zahlreiche internationale Bier-Preise gewonnen.

Unser eigentliches Ziel heute ist aber die marianische Wallfahrtskirche Oropa in den Bergen nördlich von Biella. Wir schrauben uns höher und höher über kurvige Bergstraßen, durch den Wald an der Schlucht des Oropa entlang. Bist du sicher, dass da noch was kommt? ...ich beginne zu zweifeln. Und dann sind wir am Ende der Straße angekommen, vor uns ein großer Parkplatz. Und sonst? Nichts. Zumindest sehen wir aufgrund der dichten Nebelsuppe erstmal gar nichts. Hier heroben erwartet uns nicht nur eine Wallfahrtskirche, nein es ist ein regelrechtes Wallfahrtszentrum: An die 700 Pilger können hier untergebracht werden, in einfachen Zimmern bis hin zu Luxus-Suiten. Aber gut, es ist ja auch eines der bedeutendsten Marien-Heiligentümer in Italien, dessen Wurzeln bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen, da boomt vermutlich auch der Wallfahrtstourismus. Wir steigen Treppen hinauf, links und rechts ahnen wir nur durch den Nebel die imposanten, ausladenden Gebäude. Die ausladende Barockanlage wurde unter den Savoyern errichtet, sie gruppiert sich um die ausgebaute, alte Basilica d`Oropa mit der Statue der Schwarzen Madonna. Und es geht weiter hinauf, durch den immer dichter werdenden Nebel, zur Kuppelkirche Chiesa Nuova, am oberen Ende der Anlage und erst 1960 fertig gestellt (nach alten Plänen). Ihr Inneres verlassen wir fast ein wenig enttäuscht, aber dann, wow, plötzlich lichtet sich der Nebel, wie von Zauberhand beiseite gezogen, wie ein Vorhang der aufgezogen wird und wir sehen erstmals die spektakuläre Lage der Chiesa Nuova: Direkt hinter der Kirche ragt eine imposante Bergkette auf, blauer Himmel, Sonnenschein, die Bäume zeigen sich in allen denkbaren Farbschattierungen. Wir sind einen kurzen Moment sprachlos. Das macht diesen Wallfahrtsort also auch so unverwechselbar: Diese unglaubliche Lage, so scheinbar am Ende der Welt. Zumindest fühlt es sich ein wenig so an.

Und wir wollten jetzt noch weiter hinaus, hinauf auf diesen Berg hinter der Kirche, auch wenn die Straße verdammt schmal und ziemlich holprig aussieht, aber der Ausblick von da oben, der umwerfend sein muss bei diesem herrlichen Oktoberwetter, lockt uns. In der vierten Kurve überholen wir einen alten MG, der sich ziemlich um seine Bodenplatte zu sorgen scheint, hey, sagt der Göttergatte, was der kann, können wir schon lange. Oben wartet dann tatsächlich ein umwerfender Ausblick auf uns; dazu eine warme, milchige Herbstsonne, tiefblauer Himmel, gelb gefärbte Föhren, es riecht nach warmem Almboden. Schade, dass wir unsere Wanderschuhe nicht mithaben, sonst würden wir ein paar weitere Höhenmeter zu Fuß machen. Wir liegen auf der Almwiese, Augen geschlossen, hören auf der Straße vor uns die quietschenden Bremsen eines Radfahrers, Respekt, da trainiert wohl einer für den Giro d`Italia, oder so ähnlich. Grund Nr. 2 also, Oropa und diese Aussicht, diese Stille.

Wir machen noch einen Abstecher nach Ivrea, das sich quasi am Eingang in das Aosta Tal befindet und das in ganz Italien für seinen Karneval berühmt ist: Von Faschingssonntag bis Faschingsdienstag findet hier eine Schlacht statt, die auf einen blutigen Kampf im Mittelalter zurückgeht, Millionen von weichen bis fauligen Orangen werden verschossen, eine feucht-fröhliche Angelegenheit. Aber dafür sind wir eindeutig zu früh dran oder zu spät, wie auch immer. Wir schlendern durch die Stadt mit ihrer großzügigen Fußgängerzone, landen schließlich an der Dora Baltea, die durch die Stadt fließt: Im ruhigen, aufgestauten Flussabschnitt ziehen Kinder und Jugendliche mit ihren Kanus ihre Runden, in einem künstlichen Wildwasserkanal sind die Geübten unterwegs. Städte an Flüssen sind irgendwie immer etwas Besonderes. Der Hunger treibt uns zurück ins Zentrum, aber wann, wann wird endlich diese Pizzeria am Hauptplatz aufmachen, die wir entdeckt haben? Schließlich sind wir die ersten Gäste im Ristorante Pizzeria Al Faro (Via Siccardi, 3 - Piazza di Città, Tel.: 0125/64 12 29), etwas misstrauisch beäugt von den Kellnern, später wissen wir auch warum. Hierher verirren sich keine Touristen, hier sind sie unter sich, die Stadtbewohner. Fast ohne Worte zu wechseln werden hier die richtigen Pizzen und Getränke an die Tische gebracht. Ein wenig fühlt man sich hier in die 60er zurückversetzt, zumindest wurde hier augenscheinlich nicht viel verändert seitdem, auch die Preise nicht. Für mich steht fest: Es wäre auch mein Stammlokal, denn die Pizza ist großartig, genauso wie sie schmecken soll, dünn, knusprig, nicht zu üppig belegt, aber auch nicht zu dürftig, dazu ein Glas Hauswein und danach, es muss einfach sein, ein Tartufo nero. Sie rückt ganz weit nach vorne auf meiner Favoritenliste italienischer Pizzerien. Beim nächsten Mal probiere ich auch die Pizza Atomica, versprochen. Eindeutig Grund Nr. 3.

Tag 3: Von diesem Eck des Piemont lässt sich wunderbar ein Abstecher an den Lago di Como machen, in der benachbarten Lombardei (übrigens Grund Nr. 4). Also ab auf die Autobahn Richtung Mailand und dann nordwärts Richtung Como, das wir nach ein bisschen mehr als einer Stunde Autofahrt erreichen. Kein Wunder, dass George Clooney hier ein zweites Zuhause gefunden: Was für eine Schönheit dieser See ist. Auch jetzt, im Herbst, oder sollen wir besser sagen, besonders jetzt im Herbst? Da liegt er im milchig-weichen Herbstlicht, an den Ufern färben sich die Bäume gelb, die Menschen haben ihr Tempo verlangsamt und die Touristen… die sind heute anscheinend woanders. Oder im Sommer hier. Wir bleiben vorerst ganz im Süden und damit in Como: Eine hübsche kleine Stadt mit intakter Altstadt und schönem Blick auf den See. Vom Parkhaus geht es durch das alte Stadttor, vorbei am imposanten, ca. 40 Meter hohen Torre di Porta Vittoria, dem Turm einer Befestigungsanlage aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert. Von hier aus lässt es sich wunderbar durch die hübsche Altstadt flanieren, die viele hübsche Geschäfte bietet. Großer Pluspunkt: Definitiv keine auf Touristen zugeschnittenen Shops. Aber auch Kulturinteressierte werden die kleine Stadt am Südufer zufrieden verlassen… Unbedingt ansehen sollte man sich den Dom, der zentral und zugleich nahe dem Ufer steht: 1398 gegründet, wurde die Fassade erst Ende des 15. Jahrhunderts fertiggestellt – schöne Gotik außen, viele Kunstwerke innen. Fast nebenan, am Ende der Fußgängerzone, steht die Basilika di San Fedele aus dem 12. Jahrhundert, mit einem ungewöhnlichen Grundriss, nämlich in Form eines Kleeblatts. Im Inneren warten schöne Fresken aus dem 16. Jahrhundert von Giovanni Andrea de Magistris. Architekturfans sollten noch einen kleinen Abstecher zur Casa del Fascio machen, die von Giuseppe Terragni im Baustil des Rationalismus erbaut wurde, mit viel Marmor und Glas. Das Gebäude ist geometrisch strukturiert, vom Atrium bis zum Grundriss, ein Manifest der italienischen Avantgarde. Jedoch, so weiß sie außen strahlt, so dunkel ist leider deren Vergangenheit: Gilt das Gebäude doch als einer der wichtigsten Repräsentationsbauten des italienischen Faschismus.

Schön wäre auch noch ein Blick von oben auf den See gewesen, mit dem Funicolare geht es auf den Brunate hinauf und der Ausblick auf Como und den See soll bei klarem Wetter traumhaft sein. Ach ja, Gin-FreundInnen aufgepasst: Hier oben wachsen übrigens auch die Kräuter, die im besten und wirklich besten Gin, dem RIVO Gin, landen, den es in der Enoteca da Gigi im Zentrum von Como zu kaufen gibt. Thymian, Melisse, Limonen, ein blumig-frisches Aroma… und natürlich schmeckt man auch den Comer See ein bisschen, an wehmütigen Abenden auf dem Wiener Balkon…

Aber heute ist es zu früh für einen Gin. Wir entscheiden uns für eine Pause und einen Cappuccino im Café Duomo Piazza. Und dann geht es mit dem Auto das Westufer entlang; schmale Straßen, beeindruckende, imposante historische Villen, üppig wuchernde Pflanzen, obwohl es schon Ende Oktober ist, und immer wieder ein großartiger Ausblick auf den See. Wir suchen uns einen Parkplatz (die hier eher Mangelware sind) und lassen unseren Blick über den See von Ufer zu Ufer wandern. Wunderschön. Wo George hier wohl seine Zelte aufgeschlagen hat?

Definitiv nicht in Cernobbio, das ein bisschen nördlicher am Westufer liegt und das wir als nächstes ansteuern, und das mit seinem schönen Promenadenplatz am See sofort unser Herz erobert. Die milde Herbstsonne lädt immer noch dazu ein, sich auf einem der Bänkchen am Seeufer nieder zu setzen und einfach mal die Augen wandern zu lassen… Übrigens, wer über eine wirklich (und damit meine ich wirklich wirklich) üppige Reisekasse verfügt, der sollte unbedingt im Grand Hotel Villa d’Este einchecken, laut Forbes Traveler das vielleicht beste (Luxus-)Hotel der Welt – die Lage, direkt am See, ist jedenfalls schon mal ein Argument. Für kleinere Reisekassen empfiehlt sich eine Besichtigung der ebenfalls sehr hübschen, wenn auch deutlich schlichteren Villa Pizzo, in deren Garten auch heute noch seltene Pflanzenarten zu bewundern sind.

Wir drehen eine kleine Runde durch den Ort, machen einen Stopp in der Chiesa di San Vicenzo (mit wertvollen Holzschnitzereien biblischer Szenen) und schlendern dann über die schmale (und recht befahrene) Hauptstraße, die gesäumt ist von hübschen Geschäften – Mode, Blumen, Süßes – zurück zum Auto. Ciao George, ich komme wieder, vielleicht klappt es ja dann mit einem Treffen… Hier geht die Reise weiter, nächstes Ziel: Domodossola.

Werbung aufgrund von Namensnennung/Verlinkungen. Diese Reise wurde privat und zur Gänze auf eigene Kosten unternommen.

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PIEMONT

Das Wort Piemont sagt es schon: "Am Fuße der Berge", genau da liegt die Region im Nordwesten Italien, flächenmäßig auch die größe des italienischen Festlandes. Begrenzt wird sie von der Schweiz (im Norden), Frankreich (im Westen), im Osten von der Lombardei und im Süden von der Region Ligurien. All diese Einflüsse spiegeln sich auch in Kultur und Kulinarik des Piemont wieder. Quirlige Hauptstadt ist Turin – die viel mehr kann als nur Automobilindustrie –, andere sehenswerte Städte sind Vercelli, Novara, Biella, Alessandria, Asti, Alba und Cuneo. Gut aufgehoben sind hier alle, die sich für Kultur interessieren, aber auch Foodies und Weinliebhaber kommen hier mehr als auf ihre Rechnung. Das Piemont bietet die unterschiedlichsten Landschaften, von sanften Weinhügeln im Südosten bis hin zu den beeindruckenden Berglandschaften im Westen, z.B. im Aostatal. Offizielles Wahrzeichen der Region ist die mehr als beeindruckende Benediktinerabtei Sacra di San Michèle.